Emmi Pikler: Lasst mir Zeit
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von Irene Sieben
Betrachten wir mit großer Neugier und respektvoller Aufmerksamkeit ein Neugeborenes auf seiner Reise ins erste Lebensjahr, dann werden wir entdecken, dass da kein hilflos zappelndes Wesen auf die Welt kam, sondern ein Mensch mit enormer Lernfähigkeit, mit Charakter und Kompetenz – so beschrieb es die ungarische Kinderärztin Emmi Pikler (1902-1984). Sie war eine der Ersten, die Mitte des vorigen Jahrhunderts in ihrem Budapester Kinderheim Lóczy die selbständige Bewegungsentwicklung als Basis der Persönlichkeitsentwicklung wissenschaftlich erforschte. Sie nannte diesen autonomen, kontinuierlichen Prozess „die Hochschule der Säuglinge und Kleinkinder“ und brach eine Lanze für das „freie selbständige Spiel ohne Anleitung“. Ihr zweites Buch titelt mit einem Appell an die Welt der Erwachsenen, an all jene, die so gern lehren und fördern möchten: „Lasst mir Zeit“. Dieser Aufruf ist aktueller denn je: Die 5. Auflage dieser Publikation – 2018 in überarbeiteter Fassung von Piklers Tochter Anna Tardos mit Texten, Fotos und Zeichnungen sich rollender, kriechender, krabbelnder, kletternder Kinder erschienen – zeigt das wachsende Interesse an der Pikler-Pädagogik und beweist, wie groß der Bedarf an Wissen um Wachstum und Intelligenz der Kleinkinder ist.
Der Säugling selbst lernt nach eigenem Timing. Je freier, ungestörter und selbständiger er die typischen Bewegungsmuster und die unzähligen Übergangsbewegungen von der Horizontalen zur Vertikalen durchleben darf, desto harmonischer und angstfreier kann er sich bewegen, die Gesetze der Schwerkraft erforschen, Haltung entfalten und Entdeckerfreude erleben. So sollte, sagt Pikler, das Kind nicht aufgesetzt werden, bevor es auf vielen Umwegen übers Rollen und Wälzen selbständig ins Sitzen gekommen ist; nicht hingestellt werden, bevor es selbst den Weg über die Seiten- und Bauchlage bis zum Knien auf die Füße gefunden hat. Ungeschickte Kinder gab es in Piklers Säuglingsinstitut nicht, dafür ließen sich einige tatsächlich viel länger Zeit.
[...]
Wie Pikler kannte sich Moshé Feldenkrais mit der Reifung des Nervensystems und dem Potenzial des Menschen aus, das er als „grenzenlos“ beschrieb. Er war davon überzeugt, „Lernen heißt das Unbekannte begreifen“. Für seine Methode entwickelte er aus den vielfältigen Bewegungsvariationen der Babys hunderte von „Lektionen“, mit denen er [...] dazu anregt, das Lernen selbst zu lernen, Verpasstes „nachzulernen“ und die Uhren dabei ein wenig langsamer zu stellen.
(Auszug aus „Positionen frühkindlicher kultureller Bildung“, Robert Bosch Stiftung, 2020, S. 49-54, Beitrag von Irene Sieben)
Bezugsquellen
Pikler, Emmi: Lasst mir Zeit. Die selbständige Bewegungsentwicklung des Kindes bis zum freien Gehen.
München, Verlag Pflaum, 2018 (5. von Anna Tardos überarbeitete Auflage)
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