MOSHÉ ON AIR
Auf dass die Menschen in den Städten, Dörfern und Kibbutzim
Feldenkrais machen und die Methode dadurch verstehen würden!
VON CHRISTIAN BUCKARD
Im März 1960 ging Moshé Feldenkrais zum ersten Mal in Israel auf Sendung. Natürlich „nur“ im Radio, Fernsehen gab es damals in Israel noch nicht. Das Radio war nicht nur ein Massenmedium – in jedem Kibbutz gab es mindestens einen Radioempfänger, um den sich die Pioniere abends versammelten – es stand in seinem Niveau den meist anspruchsvollen israelischen Zeitungen jener Jahre in nichts nach.
An zwei Abenden im März, zur besten Sendezeit, diskutierten Moshé Feldenkrais und Zvi Bernson jetzt also in der Sendereihe „Die Welt des modernen Menschen“ zum Thema „Veganismus und Vegetarismus – dafür und dagegen“. Beide Diskutanten waren in Israel bekannt: Feldenkrais war auch außerhalb Tel Avivs als der Mann berühmt, der Ben-Gurion auf den Kopf gestellt hatte. Bernson war der oberste Richter des Landes, begeisterter Gärtner, Yoga-Schüler und Veganer. Zum Veganismus war Bernson gekommen, als ihn chronische Kopf- und Rückenschmerzen geplagt hatten. Seit er sich vegan ernährte, war er schmerzfrei und dem Alltag wieder gewachsen. Für Feldenkrais, der nichts von Diäten hielt, war das Thema des Abends ein gefundenes Fressen.
Es hätte ein interessanter Gedanken- und Erfahrungsaustausch werden können, doch Feldenkrais ließ Bernson kaum zu Wort kommen. Sobald der Richter begann, seine Gedanken zu formulieren, unterbrach ihn Feldenkrais mit dem Ausruf „Seh lo nachon!“ – „Das stimmt nicht!“ – und riss das Wort an sich. So wurde aus der Diskussion ein Zweikampf, den Moshé auch kraft seiner wissenschaftlich fundierten Argumente und klaren Sprache für sich entscheiden konnte. Offenbar war Feldenkrais nicht geeignet dafür, vor einem Mikrophon, vor landesweiter Zuhörerschaft, mit anderen Menschen geduldig und ruhig zu diskutieren. Lampenfieber löste in ihm eine Art aggressive Schüchternheit aus, die alles niederwalzte.
So ist es kein Wunder, dass es zwölf Jahre dauern sollte, bis man sich wieder traute, Moshé zu einer längeren Diskussion im Äther einzuladen. War das „Gespräch“ mit Bernson noch vom ehrwürdigen staatlichen Radiosender Kol Israel gesendet worden, lud man Feldenkrais im April 1972 ein, im Sender Galei Zahal zu sprechen. Geradeso wie die Kibbutzim ist der Armeesender eine ur-israelische Pionier-Einrichtung, eine auf der Welt einmalige Institution. Galei Zahal, der 1950 sein Programm mit nur drei Stunden täglich eröffnet hatte und inzwischen 24 Stunden sendet, gehört der Armee und wird vor allem von jungen Armeeangehörigen betrieben. Das Programm, das sich ursprünglich nur an Soldaten wandte, richtete sich bereits in den 70er-Jahren an die ganze Bevölkerung. Viele junge und ältere Israelis wussten zu schätzen, dass es endlich einen Sender gab, in dem Alltagshebräisch gesprochen wurde. Das Musikprogramm war international ausgerichtet und die jungen Journalisten hatten den Ruf, besonders unerschrocken kritische Fragen an Politiker zu richten. In den 70er-Jahren war Galei Zahal der mit Abstand jüngste, experimentierfreudigste und umstrittenste Sender, mit einem Hauch von Avantgarde. Und einer der Stars des Armeesenders war der Journalist, Filmemacher, Schauspieler und Sänger Uri Zohar, eine Art israelischer Orson Welles.
Zohar war schon seit Jahren Schüler und Freund von Feldenkrais, und so gab er Moshé die Ehre, direkt in zwei aufeinanderfolgenden Sendungen der einzige Gesprächspartner seiner Talk-Show auf Galei Zahal zu sein. Moshé, der noch stets darunter litt, dass seine Methode gerade in Israel viel zu unbekannt war, ging in der Sendung zwar geduldig mit Zohar, doch ungeduldig mit sich selbst um. Er legte eine Tour de Force durch die Menschheitsgeschichte hin und ließ kaum einen Stein auf dem anderen. Es ist zu bezweifeln, dass den Hörern durch die Radiosendung wirklich deutlich geworden war, was es mit der Methode des Dr. Feldenkrais auf sich hat. Dabei konnte Moshé doch fernab des Radio-Mikros, wie sein Freund Yuval Meskin zu erzählen weiß, komplizierte Sachverhalte wunderschön und klar vermitteln. Auch nach der Talk-Show mit Uri Zohar kamen vor allem die „üblichen Verdächtigen“ zu Moshés Gruppenunterrichtsstunden: Menschen, die sich ohnehin beruflich mit Bewegung beschäftigten und Angehörige der politischen und militärischen Elite. Ein allgemeines Interesse, ein landesweiter Run auf die Methode blieb aus.
Mit seinem Freund und Schüler Franz Wurm hatte Moshé bereits in der Schweiz mit großem Erfolg „Bewusstheit durch Bewegung“-Lektionen über das Radio gesendet. Und wenn die Israelis nicht massenweise zu ihm kamen, vielleicht konnte er ja versuchen, sie ebenfalls über das Radio zu erreichen? Auf dass die Menschen in den Städten, Dörfern und Kibbutzim Feldenkrais machen und die Methode dadurch verstehen würden! Und welcher Sender würde ein derartiges Wagnis auf sich nehmen, wenn nicht Galei Zahal?
Yuval Meskin, der jüngste Sohn von Moshés Freund Aharon, arbeitete damals beim Armeesender. Und so machte er seinen jungen Kollegen einen Vorschlag, der sich in den Ohren der jungen Soldaten sehr eigenartig anhören musste: Dr. Moshé Feldenkrais würde sehr gerne eine Unterrichtssendung für Galei Zahal produzieren. Jede Unterrichtsstunde sollte dreißig Minuten dauern und alle Israelis, die Zugang zu einem Rundfunkempfänger hätten, könnten auf diese Weise mitmachen. Produzieren würde Moshé die Sendungen zu Hause, in seiner Wohnung in der Frug-Straße. Er würde sein Tonband einschalten, Yuval würde sich auf den Boden legen und auf Moshés Anweisungen hin die Bewegungsabläufe durchführen. Für Pausen zwischendurch würde natürlich kaum Zeit sein. Meskin wollte die Aufnahmen dann ins Studio bringen, von wo aus sie über den Äther gehen würden. Vielleicht hat Moshé gar nicht erst versucht, den Programm-Machern bei Galei Zahal zu erklären, dass es in den Stunden letztlich um ein Lernen durch Selbstwahrnehmung geht. Vielleicht der Einfachheit halber erhielt die Sendung den irreführenden Titel „Fitness-Stunde mit Dr. Moshé Feldenkrais“.
Bevor die Sendereihe endlich startete, erhielt Moshé im September und Oktober 1974 die Gelegenheit, in Gesprächsstunden des Senders etwas über seine Methode zu erzählen. Die erste Fitness-Stunde wurde Anfang November 1974 gesendet. Während der ersten Monate gab es fast wöchentlich eine halbstündige Unterrichtseinheit. Da die Lektionen nicht live gesendet wurden und Moshé sie mit Yuval ohne Zeitdruck zu Hause aufnahm, war er die Ruhe selbst. Trotzdem entsprachen die „Fitness-Stunden“ nicht den Erwartungen, welche die Programm-Macher von Galei Zahal vorher gehegt haben mochten.
Ein älterer Herr, der die Hörer mit weicher, warmer und beruhigender Stimme höflich dazu aufforderte, einmal diese und jene Bewegung zu machen, das war nach ihrer Überzeugung alles andere als geeignet für das Medium Radio. Moshé wies seine Zuhörer noch nicht einmal an, sich ihrer Alltagskleidung zu entledigen und in Sportsachen zu schlüpfen. Er bat sie lediglich, Schuhe und Sandalen auszuziehen, die Krawatten abzubinden und Möbel, die sie in ihrer Bewegungsfreiheit einschränken könnten, vorab beiseite zu schieben. In Moshés „Fitness-Stunde“ wurde nicht geschwitzt und geächzt, niemand geriet außer Atem, die Hörer wurden noch nicht einmal dazu aufgefordert einen Kopfstand zu machen. Was konnte dabei schon herauskommen?
Überzeugt, dass ihnen ihr Kollege Yuval ein Kuckucksei ins Nest gelegt hatte, dass sowieso niemand die Sendung des Doktors hören würde, geschah es immer öfter, dass Moshés Unterricht ohne Vorankündigung ausfiel oder auf einen anderen Tag verlegt wurde.
Eines Tages reichte es Moshé: Er nahm das Mikrofon in die Hand und bat seine Zuhörer eindringlich, an den Sender zu schreiben und kundzutun, ob ihnen der Unterricht gefiele oder nicht. Ob sie weiterhin Feldenkrais machen wollten oder ob es genug sei? Die Reaktion kam prompt. Galei Zahal erhielt unzählige Zuschriften, in bislang ungekanntem Ausmaß. Nicht nur, dass die Hörer weiterhin Feldenkrais machen wollten, vielen reichte die wöchentliche Sendung nicht. Sie wollten jeden Tag Feldenkrais machen, gerne auch zweimal pro Tag. Ganze Hörergruppen, die sich offenbar wöchentlich gemeinsam zum Unterricht einfanden, schrieben dem Sender begeisterte Briefe.
Doch ungeachtet dieses großen Erfolgs wurde Moshés Sendung nach einem Jahr eingestellt. Die letzten Sendungen, die aus zwei Unterrichtseinheiten bestanden, wurden nur noch als „Fitness-Stunde“, ohne Nennung Moshés, angekündigt. Trotzdem ist Moshés Serie ein Erfolg gewesen: Offenbar gab es überall im Land, von Metulah bis zum Negev, eine große Bereitschaft nach seiner Methode zu lernen, Feldenkrais nach dem Feierabend in den Alltag zu integrieren.
Als man sich bei Galei Zahal vor einigen Jahren an die Sendereihe erinnerte und im Archiv nach den Bändern suchte, konnte man die Aufnahmen nicht finden. Offenbar hatte Meskin die Tonbänder nach der Sendung wieder Moshé übergeben. Es gab zwar Israelis, welche die Sendungen privat mit ihrem Radiorecorder aufgenommen hatten, doch erst Anfang der 90er-Jahre brachte das Feldenkrais-Institut in Tel Aviv eine Auswahl von 20 der hebräischsprachigen Sendungen auf Tonbandkassetten offiziell heraus. Inzwischen sind diese Aufnahmen längst vergriffen und nicht mehr im Handel erhältlich.
Dank an Christian Buckard
Wir danken Dr. Christian Buckard ganz herzlich für die Erlaubnis, seinen Artikel hier noch einmal zu veröffentlichen.